DER ZEIT ENTHOBEN – IM RAUM VERANKERT

KOHLE. Die Kohle ist uns durch ihre verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten bekannt: als Wärmequelle, Energieträger und künstlerisches Material. Wenn ganze Bäume zu Kohle transformiert und diese neu zusammenfügt werden, friert die Zeit nicht nur ein, sondern werden sie für die Ewigkeit konserviert. Der vorliegende Text entstand nach unserem Dialog „Langer Atem“ am 22. Mai 2013 im Heidelberger Kunstverein. Er nimmt den „Grenzgänger“ Kohle zum Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Raum- und Zeitphänomenen und das gemeinsame Nachdenken über Transformationsprozesse.

FORM. Die Form vertraut, kristallin und fragil, leicht wie eine Feder, Licht komplett absorbierend: materialisierte Widersprüchlichkeit. Obwohl Kohle ein für uns vertrauter Stoff ist, erscheint uns ihr durchdringendes Schwarz und ihr regenbogenartiger Glanz nicht von dieser Welt zu sein. Obwohl organischen Ursprungs wirkt sie eher wie ein schwarzes Mineral – umso überraschender ist ihr geringes Gewicht, wenn wir ein Stück Holzkohle in der Hand wiegen. Kohle schwebt in einem faszinierenden Spannungsfeld gegensätzlicher Kräfte, deren Wirkung man regelrecht in ihrer Gegenwart erspüren kann. Sie enthüllt sich als ein materialisierter Grenzgänger, ein augenzwinkernder Trickster, verkörperte Liminalität. [JW]

RAUM. In Liminalität von lat. „limes“ – Grenze, Grenzweg, Querweg, Schneise – ist das Räumliche schon angedeutet. Liminaliät als Zustand, der typisch ist für eine Übergangsphase, soziale Übergänge, die von Riten/Ritualen gestützt werden. Ritual ist in gewisser Weise auch eine Verräumlichung des Sozialen. Das ist ein empfindlicher Zustand, in dem die Betreffenden marginalisiert sind. Es ist aber auch ein Zustand, der das Potential zu Kreativität hat.
Für die Arbeit „Minneapolis Black“ (2012) transformierte ich einen ganzen Baum zu Holzkohle – eine Amerikanische Ulme – die dann in einem Zustand zwischen Zeichnung und Skulptur im Raum schwebend installiert war. Alles war in Fragmenten anwesend: der Stamm, die Äste und die Krone mit ersten Knospen. Die Gesamtheit aller Teile war seriell in Linien quer zum Raum organisiert. Entgegen dem aufrechten Wuchs der Ulme draußen in der Natur, hingen die Zweige im Innenraum waagerecht ausbalanciert als zeichenhafte Essenz. Hat Skulptur immer das Problem der Balance zu lösen, trifft hier das Prekäre der Balance zusätzlich auf das Fragile und Zerbrechliche des Materials der Kohle. Ein Material, das uns als Zeichenmaterial geläufig ist. Man musste die Installation abschreiten, durch sie hindurchgehen – so löste sich das, aus relativ großer Distanz betrachtet, zunächst abstrakte Bild einer Raumzeichnung (schwarze Linien vor weißer Wand) – in eine körperliche Vielansichtigkeit auf. [UM]

PROZESS. Um sich der Kohle weiter anzunähern, ist es hilfreich, sich in einem prozessgleichen Denken zu üben. Das wichtigste Bild im Sinne eines kohlenhaften Denkens ist der Atmungsprozess. Teil des organischen Lebens ist es zu atmen – ein Prozess, der das Leben in ein Gleichgewicht führt und dieses zugleich aufrechterhält. Die Entwicklung der Biosphäre, in der wir heute leben, ist eine Momentaufnahme eines über Jahrmillionen fortgeführten Atmungsprozesses. Ohne Pflanzen kein Odem. Des einen Ausatmen ist des anderen Einatmen. Einatmen – Ausatmen – Einatmen – Ausatmen – Einatmen – … – Die Kohle hingegen hält den Atem an. Sie badet sich in dem Moment des Stillstandes – tritt damit aus dem Moment der Vergänglichkeit des Lebens in die Ewigkeit. Sie verlässt das Gesetz der Beziehungsführung – des Aufbaus und Abbaus des Lebenstroms. Ihre Entstehung kann als ein Unfall verstanden werden – oder im Sinne des menschlichen Eingriffs: als ein Gewaltakt. [JW]

TRANSFORMATION. Halten wir den Atem an, so konzentrieren wir uns, sprechen nicht, atmen nicht, sind still oder gebannt von etwas. Die Kohle verkörpert für mich genau diesen Zustand, sie ist ein Aggregatzustand der besonderen Form, der Konzentration und Verdichtung.
Meine künstlerische Arbeit beschäftigt sich genau mit diesem Prozess der Herstellung des schwarzen Konzentrats, mit der Umformung von Holz zu Kohle, und ist geprägt von der körperlichen Arbeit draußen auf dem Land, unter freiem Himmel, mit viel Feuer und Rauch, und das über mehrere Tage hinweg. Die ortsspezifischen Sammlungen von Bäumen, Treib- oder Straßenholz, ihre Dekonstruktion und Konservierung brachte mich auf den Gedanken des Archivs. Die Kohle an sich ist ein Archiv. Die Wortschöpfung Anthrakothek (Holzkohlebibliothek) bezieht sich auf das griechische anthrax (Kohle) und bibliothéke (Aufbewahrungsort für Bücher). Transformation ist für mich nicht nur eine reine Übersetzung von Material in ein anderes Medium, sondern aus geköhlerten Bäumen, Ästen, Linealen und Zollstöcken werden materialisierte Erinnerungen – Objekte und Zeichnungen im Raum mit eigenem Gedächtnis und eigener Sprache. [UM]

NATUR. Es gibt vor allem zwei Wege, die uns zur Kohle führen: einen geologischen (Natur) und einen chemischen (Kultur). Ganz am Anfang steht allerdings zuerst das Leben. Dem pflanzlichen Leben ist ein übermäßig aufbauender Stoffwechsel zu eigen. Sonnenlicht trinkend und Luft essend, baut die Pflanze ihren Körper langsam aus Kohlenstoff auf, den sie immer weiter verdichtend in filigrane Lebensformen einbindet – hierbei atmet sie Sauerstoff aus und gibt es an anderes Leben und ihren feurigen Wandlungsprozessen weiter. Endet ein pflanzliches Leben, so werden die körperlichen Überreste wieder von der Gemeinschaft aufgenommen und den weiteren Lebenskreisläufen zugeführt. Meistens. Manchmal kommt es jedoch vor, dass ein Unfall passiert und organische Körper aus diesen Kreisläufen, im wortwörtlichen Sinn, herausfallen. Ein umstürzender Baum wird von Wasser überlagert und gerät, während er von weiterem organischen und mineralischem Material umhüllt wird, unter Druck – allmählich wird er vom Sauerstoff, dem Element des Wandels, abgeschirmt.
Unter Wasser halten wir den Atem an … Druck und Sauerstoffabschluss überantworten mit der Zeit (sehr, sehr langer Zeit) das organische Material dem Mineralischen. Organische Verbindungen werden aufgespalten, das Wasser regelrecht aus dem Leib des Lebens herausgedrückt – zurück bleibt, haupt-sächlich: Kohlenstoff. Und mineralische Elemente. Erblickt die Kohle wieder das Tageslicht, ist sie den Lebenskreisläufen als solchen nicht mehr zuführbar. Mikroorganismen wie größere Tiere beißen sich an der Kohle regelrecht die Zähne aus. Eine unverdauliche Freude. [JW]

KULTUR. Der andere Weg führt uns über das chemische Experiment – entweder im Labor, mit der Hilfe von Bunsenbrenner und Tiegel, oder aber im Wald, im Innern eines aufgehäuften Kohlenmeilers. Das Experiment empfindet die „natürliche“ Entstehung der Kohle auf chemische Art und Weise nach. Was wir nicht brauchen: Sauerstoff. Was uns fehlt: Zeit. Um der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, gehen wir einen Handel mit dem Feuer ein. Um die Transformation des organischen Materials zur Kohle zu ermöglichen, müssen wir die natürlichen Atmungsprozesse der Welt unterbrechen. Es darf auf keinen Fall zu einer Verbrennung kommen. Fein pudrige Asche, der mineralische Pol der Lebensform, wäre das Ergebnis. Der entstehenden Kohle bleibt nur eins: Luft anhalten. Durch die Kraft des Feuers, die erhöhte Temperatur, werden der Hauptteil der organischen Verbindungen und der wässrige Anteil der Substanz ausgetrieben. Zurück bleibt das Kohlenstoffgerüst und sein mineralischer Anteil. Die Kohle ist ein Stück mineralisierten Lebens. Versucht man diese Substanz wieder den Atmungsprozessen zuzuführen, etwa als Brennmaterial, benötigt man außerordentliche Überredungskunst, im Sinne einer guten Portion Aktivierungsenergie. Die Kohle lässt sich nicht leicht aus ihrer Ohnmacht wecken. Die Hitze, die sie nun allerdings in der Lage ist zu entwickeln, ermöglicht dem Menschen einen gänzlich neuen Eingriff in die anorganischen Elemente. [JW]

LANDSCHAFT. Im Heidelberger Kunstverein war eine komplexe Landschaft zu sehen, die sich aus den verschiedensten Materialien zusammensetzte und sich auf die Beschaffenheit des Raumes bezog. Die Kohlen, Aschen, Sand, Ton, Holz, Metall und Pigmente in unterschiedlichen Aggregatzuständen verteilten sich über den Raum. Meine Vorgehensweise glich der einer archäologischen Grabung, indem ich den Raum in der Aufbauphase einem Prozess der „Entblätterung“ unterzog, ein-, um- und abbaute und lediglich die Fragmente der vorangegangen Arbeiten stehen ließ. Auch hier war der Betrachter gefragt, sich durch die räumlichen Spuren und Geschichten der Ausstellung auf serendipischen (Um-)Wegen zu bewegen und dadurch das räumliche und zeitliche Volumen von Kohle in seiner Ausdehnung und seiner Leichtigkeit zu erfahren. [UM]

GESCHICHTEN. Rauch über einem Meer aus Bäumen. Zwei Möglichkeiten: Gesetzlose oder Köhler. In der Kulturgeschichte war die Kohle ein beliebtes Material einer ganz besonderen Sorte von Grenzgängern: den Köhlern und Schmieden. Sie teilten mit ihr den ausgedehnten Moment der Liminalität.
Sich in den Wäldern des Mittelalters aufzuhalten war unter Strafe durch den Adel verboten. Im Wald, da hausten die Räuber, die Dämonen, der wilde Mann – und die Köhler. Um die Kohlenmeiler zu betreuen, besaßen sie ein Sonder-recht, im Wald zu leben. Sie waren die Geburtshelfer eines begehrten, quasi magischen Rohstoffs. Die Abschirmung des hölzernen Materials innerhalb des Erdmeilers durch eine komplizierte Luftführung war keine leichte Aufgabe. Ein unvorhergesehener Windstoß konnte die gesamte Arbeit gefährden, ein plötzlicher Sturm sie vollständig zunichtemachen. Der Köhler schirmte die Elemente und schürte das Feuer mit Bedacht und beständiger Aufmerksamkeit, um das schwarze Gold schlussendlich zu Tage zu führen. Das Kohlenfeuer war der Ausgangspunkt des magischen wie handwerklichen Wirkens der Schmiede. Hier konnten ganz handgreiflich die transformatorischen Kräfte der Kohle erfahren werden. Die Hitze der Kohle lockte flüsternd vorher träge Metalle aus zuvor unzugänglichen Gesteinen. In der Metallschmelze wurden erstarrte Ressourcen zum Fließen gebracht. Der Schmied war der Künstler dieses Zwischenraums. Er vermochte seinen Zauber in diesem Moment des Übergangs zu entfalten und ihn in die bezaubernden oder erschreckenden Artefakte zu weben.
Schmiede waren gleichermaßen verehrt wie gefürchtet. Wie die Köhler standen sie am Rande der Gesellschaft. Man denke nur an den zwergenhaften und humpelnden Hephaistos der griechischen Mythologie, der von den anderen Göttern gleichermaßen gedemütigt wie ausgenutzt wurde, durch seine List letztendlich aber die Oberhand behielt. An den Mime der nordischen Mythologie oder Illmarinen aus der finnischen Kalevala. Sie teilen viele Eigenschaften; aber vor allem, dass sie ohne die Kohle ihre Kunst nicht hätten ausüben können. Der Schmied ist ein Schamane und sein magisches Pferd ist die Kohle. [JW]

ZEIT. In meinen Arbeiten könnte man die Begriffe zu Zeit, Zeitlichkeit und Unendlichkeit endlos weiterspinnen, immer weiter auffächern. Kohle verweilt nicht nur in anderen Zeiträumen, sie versucht auch immer das Gewöhnliche mit dem Ungewöhnlichen auszubalancieren, ist hungrig nach Sauerstoff, will Kontakt aufnehmen. Was mich bei meiner jüngsten Arbeit „Collaboration with the Universe“ auf der Veranda der alten Bibliothek in Steinhöfel interessierte, war, was passiert, wenn so eine fragile Arbeit den geschützten Ausstellungskontext verlässt.
Zwei Wochen lang schwebte ein Schwarm aus 300 Holzkohleästen Tag und Nacht bei Wind und Wetter draußen. Sie schwangen, baumelten, klimperten und klangen sehr fein – hoch und hell. Immer zwei geköhlerte Aste waren miteinander verbunden und ergaben ein Geflecht aus Paaren, beide ungefähr gleich schwer. Brachen manche Äste mit der Zeit und verloren an Gewicht, pendelte der jeweils andere Ast diese fragile Partnerschaft aus, andere wiederum wurden fallengelassen.
Es wurde zu einem visuellen und akustischen Ereignis zwischen der Kohle, der pulsierenden Natur, den sich im Wind bewegenden Bäumen im Park – angehalten und doch unersättlich. Die miteinander verbundenen Fragmente nahmen die sie umgebenden Schwingung der Luft auf, pendelten fragil und gleichzeitig unangreifbar für die sie umgebenden Lebensprozesse im offenen Raum, getragen durch ein klirrendes Klimpern.
Befindet sich die Kohle in einem dauerhaften Aggregatzustand der Zeitlosigkeit, der Zeit enthoben, so ist sie dennoch immer in Bewegung, auf der Suche nach Kontakt, Austausch und Kollaboration. Ihr Klang breitet sich im Raum aus, will sich im Raum verankern, in uns noch länger nachklingen. [UM]

Justus Weiß & Ulrike Mohr, 2013

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