Die Stimme der Dinge I, Standing on a surface
Wenn wir von einer Oberfläche sprechen, implizieren wir automatisch, dass es ein Darunter gibt; eine Unterseite oder eine Rückseite. Die Oberfläche umhüllt das Ding in seiner Gesamtheit und bleibt doch zugleich nur Teil des Ganzen; denn ein jedes Material ist mehr als nur seine Oberfläche.
Die Wahl der Oberfläche als Standpunkt und Fokus künstlerischer Recherche ist in keiner Weise oberflächlich, ganz im Gegenteil. Ulrike Mohrs Arbeit ist ein metaphorisches Kratzen an der Oberfläche des Materials, ein Freilegen der einzelnen Schichten, durch das die Möglichkeit der physischen Veränderung, die einem jeden Material innewohnt, kommuniziert wird. Auf der Oberfläche zu stehen bedeutet, einen Standpunkt einzunehmen, der sowohl nah am Objekt ist, buchstäblich in Berührung mit dem betreffenden Material, als auch einer den Abstand wahrenden Observation gleichkommt.
Erforschend einerseits, empfindend andererseits, Mohrs Annäherung an Material und Objekt ist eine genauso feine Gratwanderung zwischen Poesie und Prosa wie die Schriften Francis Ponges. Das bekannteste Werk des französischen Autors trägt auf Französisch den Titel Le parti pris des choses, was ungefähr so viel heißt wie Auf Seiten der Dinge oder Partei der Dinge ergreifend. Hätte Francis Ponge diesen Titel nicht schon benutzt, würde ich ihn der Arbeit von Ulrike Mohr geben.
Ponges zentrale literarische Errungenschaft liegt in der Beleuchtung der schwierigen Beziehung zwischen dem Faktischen, dem Konkreten, und dem Möglichen oder Potentiellem. Sein Erfolg beruht darauf, eine Sprache entwickelt zu haben, die sowohl offen (unumwunden) als auch erweiterbar und doch präzise genug ist, um ebendiese Spannung zu artikulieren. Diese Sprache spricht auch Ulrike Mohr. Ihr wissenschaftlich präzises Interesse an der Transformation eines Stoffes von einem physischen Zustand in einen anderen – Holz zu Kohle, Kohle zu übergroßen Zeichenutensilien, mit denen fragile und bebende Wandzeichnungen entstehen – zeugen von einer tiefen Empfindsamkeit dem stofflichen Gegenstand gegenüber; von einer Haltung parti pris des choses. Gleichzeitig jedoch ist sie akkurat und nüchtern, lässt die Dinge – les choses – in ihrem Sein. Die Veränderungen der Form, die Ulrike Mohr anstößt, mögen radikal sein, doch sie bleiben immer im Rahmen des natürlich Möglichen. Und somit sind sie beschreibend.
Das Buch Le parti pris des choses, erstmals 1942 in Frankreich gedruckt, wurde mehrfach ins Englische übersetzt und unter verschiedenen Titeln veröffentlicht, so wie The Voice of Things (Die Stimme der Dinge), The Way Things Are (Das Sein der Dinge) und The Nature of Things (Die Natur der Dinge). Jeder dieser Titel artikuliert einen bestimmten Ansatz für die Interpretation der Arbeit Ponges. Zusammen bringen sie eine Synthese des Konflikts in der Vereinbarung des Konkreten mit dem Möglichen zur Sprache: Den vielen Leben der Dinge. Eine Katze, so sagt man, hat neun Leben, und manche glauben, auch der Mensch habe mehr als nur eines. Die Dinge, die die uns umgebende materielle Welt ausmachen, haben allerdings auch einige. Das finden wir in den Arbeiten Ulrike Mohrs bestatigt.
Die Stimme der Dinge ist die Stimme der Kohle, die vom Meereshorizont spricht, wenn sie die Wände der Galerie berührt. Das Sein der Dinge ist die Kohle, wenn sie als verbranntes Holzstück mit ihrem Duft und ihrer Farbe meine Hände schwarz färben, wenn ich sie berühre. Die Natur der Dinge ist konstante Wandlung. Le parti pris des choses bedeutet, die Oberfläche der Dinge, wie sie uns erscheinen, zu betrachten, sie sprechen und leben zu lassen.
Alive Goudsmit, 2011