Rede zur Eröffnung der Ausstellung von Ulrike Mohr und Ingar Krauss in Altlangsow
In der Hoffnung, meine Gedanken zu beflügeln, verbrannte ich vor der erst noch zu schreibenden Rede gebündelte Salbeiblätter und kubanischen Tabak. Ihr Rauch erschien mir angesichts der fotografierten Pflanzen von Ingar Krauss und den im Schwelbrand verwandelten Hölzern von Ulrike Mohr als die passende Stimulanz. Die hinzugenommene Lektüre über ihre unterschiedlichen Naturzuwendungen führte mich in den Märchenwald meiner Kindheit zurück, in die sogenannte Goitzsche, die heute als Wasserlandschaft den ökologischen Albtraum meiner Heimatstadt Bitterfeld in einen Luft- und Badekurort verwandelt hat.
Im Internet findet man unter diesem Namen viel über Segeln und Tauchen, aber nichts über einen der letzten Urwälder Deutschlands, der anstelle der heutigen Wasserflächen der ehemaligen Tagebaugruben Jahrmillionen lebte, bis er in den frühen 1950er Jahren der falschen Berechnung eines unter ihm liegenden, angeblich gewaltigen Kohlevorkommens geopfert wurde. Die vielen Tonnen Bernstein, die man dort bis heute abbaut, sind Zeugen seines kontinuierlichen, auf uralten Schichten basierenden Wachstums. Ich erinnerte mich an sein dunkles Inneres, an die tausendjährigen Eichen und andere gewaltige Laubbäume, deren Stämme und Astwerk wie Gesichter und Arme aussahen, an die klaren Bäche, an die auf Bäumen sitzenden Luchse, an geschichtete und gestapelte Hölzer, wie sie Ingar Kraus andernorts fotografiert hat und an die auf einer Lichtung stehenden Köhlerhütten mit ihren schwarzen Männern und den rauchenden Meilern, die Holz in Kohle verwandelten, wie heute die Künstlerin Ulrike Mohr.
Mein Zeichenlehrer hat diesen Wald als hätte er seinen Untergang geahnt, geradezu manisch in zahlreichen Gemälden festgehalten, ihn also in Kunst übersetzt. Auch sie sind inzwischen verloren und vergessen. Im städtischen Museum liegen als letzte Relikte dieses Naturwunders versteinerte Eichen und Skelette vorsintflutlicher Tiere, die man in den gewaltigen Gruben der Kohleförderung gefunden hat. Der alte Wald und seine Hinterlassenschaften, vor allem seine zu Stein gewordenen Tiere und Pflanzen liegen immer noch unter dem 75 m tiefen Seegrund. Derartige Wälder sind eines der seltensten und kostbarsten Güter, nicht nur in Deutschland. Ihre bedenkenlose Vernichtung ist nur eines von vielen Verbrechen gegen die Natur, die sich ununterbrochen fortsetzen, in den Regenwäldern Südamerikas und Afrikas, in unseren maßlosen Produktionen, die Natur in künstliche, überwiegend überflüssige Dinge verwandeln bis alle Ressourcen verbraucht und Leben nicht mehr möglich ist.
Wir alle wissen das.
Ich will hier nicht die Frage stellen, was man dagegen tun sollte, sondern anlässlich der Ausstellung der der Natur zugewandten Werke von Ulrike Mohr und Ingar Krauss fragen, was Kunst uns über Natur und den ihr inhärenten Beziehungen zwischen Leib und Seele lehren kann.
Kunst ist – auch wenn man mitunter in ihrem gesellschaftlichen Betrieb nicht das Gefühl hat – die schwächste und zugleich, wie der Künstler Joseph Beuys bis an sein Lebensende unermüdlich behauptete, die einzige gesellschaftliche Kraft, die nach dem Scheitern der großen Utopien, ein gemeinschaftliches Formbewusstsein jenseits aller Ideologien zu stiften vermag. Dieser Ausnahmekünstler hat die geistig-soziale Kraft der Kunst auf eine ungewöhnliche Weise verkündet und als eine seiner letzten Taten eine gemeinschaftliche Pflanzung von 7000 Bäumen in der Stadt Kassel initiiert. Er hat ein gewaltiges Werk hinterlassen, das nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges mit zarten, zur Unsichtbarkeit neigenden Pflanzenzeichnungen beginnt. Die Pflanze ist bei allen seinen universellen Denkversuchen der Ausgangspunkt für eine komplementäre Betrachtung von Natur und Gesellschaft geblieben.
Die Ausstellung von Ingar Krauss und Ulrike Mohr führte mich auch zu der Frage, wann die Pflanze in der Kunst eigenständig geworden ist. Ihre alleinige bildnerische Betrachtung über alles Symbolische und Ornamentale hinaus begann – und gestatten Sie mir bitte diesen Ausflug in die Vergangenheit – 1503 mit Albrecht Dürers sogenannten Großen Rasenstück, das erstaunlicherweise keine Parallelen hat. Weder geistesgeschichtlich, noch stilistisch und technisch finden sich Beziehungen zu anderen Künstlern. Dieses oftmals nur aus sentimentalen Gründen massenhaft reproduzierte Aquarell wurde in seiner revolutionären Dimension kaum wahrgenommen. Dabei handelt es sich nicht nur um das früheste präzise Abbild bestimmbarer Pflanzen, sondern vor allem um die erste bildnerische Darstellung ihres seelischen Naturzusammenhanges. Die Ideen des in Dürers Zeit aufkommenden und vor allem von Nikolaus Cusanus vertretenen Panpsychismus ist diesem freien Bild eines Naturstücks ablesbar. In der Natur, so Dürer, stecke die Kunst, wer sie herausreißt, wie er schrieb, der besitzt sie. Besitz meint hier etwas Immaterielles, die Erkenntnis der in die Natur eingelagerten geistigen Strukturen, die Dürer mit Gott gleichsetzte. (Rupprich III, S. 295)
Vor allen anderen sind im 19 Jahrhundert die Pflanzenstudien Goethes zu nennen, aus dessen morphologischen Erkenntnissen die Idee des Anthroposophen Rudolf Steiner hervorging, das Soziale, die Gesellschaft von Menschen als einen der Pflanze parallelen dreigliedrigen Organismus zu betrachten.
Vor ihm hatte der geniale Physiker und Begründer der Psychophysik Gustav Theodor Fechner in den 1840er Jahren nach schwerer Krankheit das Seelenleben der Natur entdeckt und über die Seele der Pflanzen Texte verfasst, die heute u.a. der Philosoph Emanuele Coccia weiterführt, der in seiner jüngst erschienenen Philosophie der Pflanzen schreibt: „Erde und Himmel … sind die unendliche Fortsetzung unserer Haut.“ (E.C., 121)
Wir hören davon, dass Bäume kommunizieren können und erfahren, dass ein altes panpsychisches Wissen sich im Denken unserer Zeit zu rehabilitieren beginnt. Diese Umkehr, wenn wir es so nennen wollen, meint keinen regressiven Prozess, sondern die Ankunft in der Eigentlichkeit des Seins, die vor allem in dem bis heute populären Denkmodell des Körper und Geist trennenden Substanzdualismus von René Descartes nachhaltig gestört ist. Für diese angesichts des Zustandes der Welt notwendig gewordene Umkehr im Denken ist Kunst ein unerlässlicher Wegweiser. Ihre Rezeption ist eine Einübung in einen universellen, ungeteilten geistigen Zusammenhang, der nichts weniger erfordert als ein besseres Fühlen und Denken, die Voraussetzung jeder formbildenden Veränderung sind.
Die Kunst spielt allerdings seit dem Verlust ihrer Bildmächtigkeit im Dienst des Christentums in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle, ist möglicherweise sogar durch ihre zunehmende Ideologisierung eine bedrohte Art geworden.
Die Bildkunst kann Räume öffnen, die dem gewöhnlichen Auge nicht nur verborgen bleiben, sondern deren Existenz im siegreichen Materialismus zunächst desavouiert und schließlich gänzlich infrage gestellt wurde. Die bildliche Darstellung dieser intrinsischen (von innen kommenden) Räume ist aber immer das Brot der Kunst gewesen, die von Anbeginn nach dem Bewusstsein, nach der spirituellen Seite unseres Daseins gefragt hat. Wie mein eingangs erwähnter Märchenwald ruht sie auf Schichten eines universellen bildnerischen Denkens, dessen Resultate wir in den Museen betrachten können, die Wunderkammern des Geistes, des Bewusstseins sind. Die Kraft des künstlerischen Bildes liegt nicht in seinen Mitteln, sondern im Geheimnis, dem es eine Form, eine sichtbare, materielle Gestalt verleiht, die das Wunder des unerreichbaren Seins anschaulich macht.
Das wie immer gestaltete Bild, ob als Fotografie, Malerei oder Zeichnung, an der Wand oder plastisch oder skulptural im Raum, erfüllt sich erst im Betrachter. Es rechnet mit dem Dialog und ist von Anbeginn für den anderen, für ein Gegenüber geschaffen, dem es entscheidende Fragen stellt und auf dessen Antworten es hofft.
Es hilft uns zu verstehen, was es heißt ein Ich zu sein, das sich seine Umwelt geistig aneignen, eine Sprache finden muss, die uns die beredte und zugleich schweigsame Natur erkennen und mit ihr kommunizieren lässt. Wissenschaft allein reicht dafür nicht aus.
In Dürers Rasenstück finden wir keinesfalls ein tautologisches oder sagen wir naturalistisches Bildverfahren, sondern eine für alle Kunst entscheidende Transsubstantiation, das Gesehene wurde von in Wasser aufgelösten Pigmenten mit Hilfe eines Pinsels auf Papier in ein geistiges Bild übersetzt, das uns bis heute fasziniert. Ein Herausreißen der Kunst aus der Natur, wie Dürer sagt, heißt nicht, das Geheimnis des Daseins zu entschleiern, sondern es überhaupt erst sichtbar zu machen. Die von Dürer geordneten Gräser, die die Natur schlechthin repräsentieren, sind zum ersten Mal aus der Untersicht, sozusagen auf Augenhöhe mit einem Menschen gesehen. Das hat mit Unterwerfung oder dem biblischen untertan machen der Erde nichts zu tun. Dürer ließ bei dieser an eine Bühne erinnernde Naturaufführung überraschenderweise die große Erfindung der Renaissance, die Zentralperspektive außer Acht. Das Mathematisch-Geometrische, die auf den zentralen Punkt hinführenden Linien fehlen seltsamerweise.
Wenn wir zu weit gehen wollten, dann könnten wir sagen, mit diesem unscheinbaren Rasenstück zeigt sich in der Bildkunst erstmals die Ambivalenz zwischen geschlossenen Systemen und offenen, ganzheitlichen Betrachtungen. Möglicherweise sehen wir konzeptuell gedacht die erste künstlerische Fotografie, sogar den Beginn der Konzeptkunst, die Vorstellung, Naturmaterialien in alchimistischen Verfahren zu verändern, um einen geistigen, einen poetischen Raum zu schaffen, den Eintritt ins Offene, kurz den Beginn der Moderne, wenn wir diesen Begriff positiv deuten wollen.
Mit der Erfindung der die Mathematik verabsolutierenden digitalen Bildwelt und ihrer inflationären Ausbreitung scheint jedoch das künstlerische Bild grundsätzlich in Gefahr zu geraten, nicht weil es an den Möglichkeiten seiner Produktion mangelt, sondern weil der massenhafte Konsum errechneter Bilder oder allgemein von digitalen Oberflächen das Bewusstsein auf eine eindimensionale Wahrnehmung umstellt, die in allen unseren Beziehungen zur Natur extreme Veränderungen mit sich bringt.
Tatsächlich können wir nach etwa dreißig Jahren digitalen Massenkonsums zahlreiche Phänomene dieser Umstellung beobachten, die von veränderten sozialen Verhaltensweisen bis hin zum veränderten Sprach- und Sehvermögen reichen.
Gemeinhin bestreitet man den Unterschied zwischen dem errechneten und dem in der Dunkelkammer in einem chemischen oder sagen wir alchimistischen Prozess und den entsprechenden Apparaten entstandenen Bild. Wenn man zu lange im digitalen Bildkonsum verweilt, ist man vor den Fotografien von Ingar Krauss beinahe erschrocken über die Andersartigkeit seiner Bilder. Im Vergleich mit den selbst von einem Mobiltelefon herstellbaren hochaufgelösten Farbfotos, die im sogenannten scrollen einen Überflug über Hunderte von Bildern in Minuten gestatten, sind seine Aufnahmen von einer monumentalen Stille. Seine fotografierten menschenleeren Gärten etwa mit ihren eigenmächtigen Bauten sind Stilleben in denen sich Natur und Kultur im individuellen Gestaltungswillen begegnen. Ingar Krauss arbeitet konsequent schwarzweiß mit Ausnahme seiner bühnenartig inszenierten Naturstücke, die er mit einer Ölfarbenlasur überzieht, die ihnen die Anmutung von Gemälden verleiht und die meinen Exkurs über Dürers Rasenstück angeregt haben. In seinen Fotografien dominiert die plastische Qualität des Schwarzweiß, die in der reinen Farbfotografie aufgehoben würde. In der Ausstellung korrespondiert das Schwarzweiß mit den durch das Köhlern schwarz gewordenen Materialien von Ulrike Mohr, die aus der Natur entnommen, in ästhetisch bestimmte Abbilder transformiert wurden. Sie wurden wie das fotografische Bild in der Dunkelheit des Köhlerofens gleichsam entwickelt.
Wie die analoge Fotografie, deren sich Ingar Krauss bedient, ist das Köhlern ein aussterbendes Handwerk, das sich einer archaischen Technik bedient, die inzwischen sogar als Weltkulturerbe unter Schutz steht. Geköhlertes Holz ist wie eine Übersetzung in die Ewigkeit des Schwarz, eine Art Schwarzfotografie des farbigen Materials, das dem Verfall auf immer entzogen ist. In beiden Fällen, in der Fotografie und in der skulpturalen Materialverwandlung durch das Köhlern, geht es um die Erschaffung eines Bildes durch chemische Prozesse, die in eine ästhetische Ordnung übersetzt werden.
Das Bild selbst ist – wenn wir seine Intention und die Reflexion zusammenführen – ein geistiger Prozess, der ein Nachbild erzeugen kann, das, obwohl durch das Material konstituiert, ohne jede Materie auskommt.
Diese Vor- und Nachbilder erhellen unser Bewusstsein, ohne dass wir definieren können, was sie eigentlich erzeugt und warum wir sie Kunst nennen und ob sie, wie Dürer behauptete, in der Natur ihren Ursprung haben.
Der Titel des letzten Buches des französischen Philosophen Roland Barthes heißt die helle Kammer, das sich der Fotografie widmet und hell im Sinne von Belichtung versteht, aber auch über das Erhellen geistiger Zusammenhänge in der Erinnerung spricht. Obwohl die beiden hier gezeigten Künstler Ulrike Mohr und Ingar Krauss mit unterschiedlichen Materialien arbeiten, bilden sie im Sinne des Geistigen eine helle Kammer, die mehr als den lichten Galerieraum meint. Die helle Kammer mit ihrem der Erinnerung dienenden Bildvorkommen, dessen Wesensmerkmal unter anderen die eingefrorene oder angehaltene Zeit ist, ist ein übergreifender Begriff, der auf die Fotografie wie auf die raumgreifenden Skulpturen von Ulrike Mohr mit Ihrem durch Feuer konservierten Material zutrifft. Das Schwarzweiß der Fotografien und das Schwarz der haltbaren und im Brennwert gesteigerten Kohle sind der absoluten Helligkeit der Sonne geschuldet, dem eigentlichen Ursprung allen Lebens, dessen Wirklichkeit Kunst als eine Ahnung ihrer Ausdehnung zeigt. Kunst ist eine offene Denkform in Bildern, die subjektiv wahrgenommen werden will und sich jedem Objektivierungsversuch als letztem Schluss widersetzt. „Das Kunstwerk“, schrieb um 1900 der Philosoph Georg Simmel, „fordert nur einen Menschen, diesen aber ganz und seiner zentralsten Innerlichkeit nach: es vergilt dies dadurch, dass seine Form ihm der reinste Spiegel und Ausdruck des Subjekts zu sein gestattet.“ (G.S., 731)
Eugen Blume, 11.06.2022
