Von der Verstetigung des Flüchtigen: Ulrike Mohrs Kubus neben der Tauber
Der deskriptive Name von Rothenburg ob der Tauber verortet die Stadt zugleich im Verhältnis zu der sie umgebenden Landschaft. So wurde die mittelalterliche Festung auf einer Anhöhe erbaut, die das Flusstal überblickt. Um an das Flussufer zu gelangen, muss man mehrere Treppenanlagen hinabsteigen, die außerhalb der alten Befestigungsanlage liegen. Die aus grauem Sandstein gehauenen Stufen führen durch einen Park in Hanglage, in dem das historische Kurhotel Wildbad liegt. Die Geschichte des malerischen Orts reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück, als eine Heilquelle entdeckt wurde. Heute erstreckt sich ein historistischer Gebäudekomplex aus dem späten 19. Jahrhundert den Hang entlang. Er besteht aus mehreren verschachtelten Teilen – inklusive einer „Rokoko-Halle“ und einem neo-klassizistischen Theater – die über ein verzweigtes Netz an Treppen verbunden sind. Unten angekommen findet der Komplex mit einem freistehenden Arkadengang seinen Abschluss, der mit sich wiederholenden Rundbögen den Blick auf den Fluss rahmt. Im Herbst 2018 ist ein neues Element hinzugekommen; links neben dem gelb gestrichenen Gang steht nun ein großer, grauer Kubus. Beim Hinabsteigen, wie auch beim Spaziergang entlang des Tals, erscheint der Beton-Kubus mit seinen 1,20 Kubikmetern den Fußgänger*innen als ein Objekt, das sich deutlich von der Landschaft und der historischen Anlage abhebt. Kubus neben der Tauber ist Ulrike Mohrs ortsspezifische Skulptur im öffentlichen Raum, die sie innerhalb ihrer „art residency wildbad“ entwickelt hat.
Als konkretes Objekt – wobei sich „konkret“ sowohl auf die Materialität wie auch seine Präsenz bezieht – steht der Würfel im Kontrast zu der pittoresken Landschaft und dem eklektischen Gebäudekomplex. Darüber hinaus scheint er auch mit Mohrs bekanntesten Arbeiten zu brechen. So zeichnet sich ihr Œuvre primär durch die Verwendung von tiefschwarzen, samtigen geköhlerten Objekten aus. Diese bilden die Basis für ihre fragilen und höchst komplexen Installationen, die oftmals an schwebende, schwarmartige Gebilde erinnern – sowohl in der Luft (Carbon 0112358, 2016) als auch im Wasser (Wasserzeichnung, 2017) – oder auf den Ausstellungsraum Bezug nehmen (Long Walk into another Time, 2015). Mohr ist dafür bekannt, in ihrer Praxis die historische Handwerkstechnik des Köhlerns zu verwenden. Der Köhlerofen ist somit für sie zum künstlerischen Medium geworden, mit dem sie jegliches organisches Material in ewig haltbare Objekte verwandelt. Ganze Bäume, in Scheiben gesägt (Slicing Time, 2016), Büsche und Sträucher (Anthrakothek, 2013), aber auch kulturelle Artefakte, wie Kleiderbügel, ein Bambusvorhang (Pflanze – nicht – Pflanze, 2016), das lokale Traditionsgebäck „Schneeballen“ und sogar eine tot aufgefundene Hummel werden auf diese Weise in zart schimmernde und verdichtete Versionen ihrer selbst verwandelt. Basierend auf der historischen Technik der Kohleherstellung, aktiviert sie einen komplexen Prozess, der eine Vielzahl an Reaktionen auslöst, darunter Dehydrierung, welcher zu einer Transformation der gesamten chemischen Zusammensetzung des ursprünglichen Materials führt und die Objekte in zugleich dauerhaft beständige, aber höchst fragile, köhlerne Artefakte verwandelt.
Die erste Ausgabe ihres fortlaufenden Publikationsprojektes Anthrakothek (2014) (der Begriff setzt sich aus „Anthrazit“ für die hochwertigste Kohlensorte und dem griechischen Wort θήκη (thékē) für Aufbewahrung zusammen) befasst sich mit der Erkundung des Köhlerns als eines chemischen, aber auch magischen Vorgangs, sowohl in ihren Arbeiten als auch durch die darin vertretenen Texte. Kubus neben der Tauber und Anthrakothek Vol. 2 markieren nun ein neues Kapitel in ihrer Praxis: Bisher bestand das Material für ihre Installationen aus dem, was sie der Hitze des Ofens entnommen hat; im Fall des in Wildbad an Ort und Stelle durchgeführten Akt des Köhlerns hat sich nun der Ofen selbst manifestiert. Während der den Arbeiten vorausgehende Transformationsprozess für die Augen der Betrachter meist unsichtbar bleibt, hat er sich hier nun als Skulptur in die Landschaft eingeschrieben. So hat Mohr eine Methode entwickelt, den Ofen selbst in eine Skulptur zu verwandeln. Diese Besonderheit bleibt unserem Blick jedoch vorerst verborgen, wenn man den Kubus aus der Distanz sieht und sich ihm nur langsam – entweder über die Treppen oder den Wanderpfad – nähert.
Phänomenologisch betrachtet ist der Kubus eines der geometrischen Objekte, die wir am leichtesten als solche erkennen, ohne je darüber nachdenken zu müssen, ob sich alle Seiten tatsächlich gleichen. In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (aus dem Jahr 1945) fungiert der Kubus für den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty als zentrales Beispiel, wie der Erkenntnisprozess mittels unserer körperlichen Erfahrung eines Objekts in Gang gesetzt wird und wie wir einem Objekt auf diese Weise Bedeutung verleihen. Er plädiert dafür, dass wir Objekte nicht primär mit dem Auge wahrnehmen, sondern dass es ein körperliches Verhältnis ist, welches wir mit dem Objekt in einem „lived-through movement“ eingehen, das unsere Wahrnehmung bestimmt. (1) Mohr schafft es mit ihrer Arbeit, diesen automatisch ablaufenden Prozess der Wahrnehmung in der Schwebe zu halten, indem sie unseren (wenn auch unbewussten) Erwartungen widerspricht: So besteht der Kubus tatsächlich nicht aus sechs gleichen Seiten. Bei genauerer Betrachtung offenbart er seinen Inhalt, der lediglich durch eine Glasplatte geschützt wird. (Während des Köhlerns hatte eine dicke Metallplatte dafür gesorgt, dass sich die notwendige Hitze bildet.) Der Kubus ist hohl und birgt in seinem Inneren die tiefschwarzen Spuren seines Herstellungsprozesses: Die geköhlerten Stücke eines kompletten Baums kleiden die gesamte Innenfläche der dicken, grauen Betonhülle aus. Genau an seinem jetzigen Aufstellungsort, neben der Tauber, hat Mohr den Kubus als Ofen gebaut, um einen der Bäume aus dem Landschaftspark zu köhlern. Ähnlich der Namensgebung der Stadt, basiert Mohrs Praxis auf einer ortsspezifischen Bezugnahme auf die Umgebung. Die Struktur der Rinde, inklusive der den Baum umwindenden Efeuranke, hat somit das Innere des Kubus geformt. Im Kontrast zu der gleichmäßigen Oberfläche hat sich das natürliche Wachstum des Baums in das Material eingeschrieben.
Auch wenn die abstrakte Form des Kubus und die organische Struktur des Baums erst mal als Kontrast wahrgenommen werden, so besteht tatsächlich eine lange Tradition, diese beiden Elemente als in einem wechselseitigen Verhältnis stehend zu begreifen. Als geometrisches Objekt gehört der Kubus zu den fünf platonischen Körpern, das heißt er ist ein Polyeder, der sich dadurch definiert, dass er größtmögliche Symmetrie besitzt – was auch für Merleau-Ponty von Interesse war. In seiner Philosophie assoziiert der griechische Philosoph Platon jedes der vier klassischen Elemente (Erde, Luft, Wasser und Feuer) mit einem dieser dreidimensionalen, geometrischen Körper, wobei er die Erde dem Kubus zuordnet. Der deutsche Astronom, Mathematiker, Astrologe und Philosoph Johannes Keppler hat diese Beziehung in einer Serie von Grafiken in seinem Kompendium Mysterium Cosmographicum (Tübingen, 1596) festgehalten; darin schmückt ein Baum die Vorderseite des Kubus (Abb. 1). Der Kubus markiert damit nicht nur die spezifische Landschaft in Wildbad, er ist zugleich als Symbol für alle Landschaften auf der Erdoberfläche zu sehen.
Formal gesehen, aber auch aufgrund des Titels scheint sich Kubus neben der Tauber auf die Tradition der Minimal Art zu beziehen. Nähert man sich der Arbeit jedoch, so eröffnet sich nach und nach ein weites Feld an Referenzen – ähnlich dem komplexen Prozess der phänomenologischen Wahrnehmung. Sprich: Nur durch körperliche Bewegung und dadurch, dass man sich immer wieder aufs Neue zum Kubus verhält, lässt sich die darin enthaltene Vielschichtigkeit erschließen. Demzufolge ist der Kubus eher mit prozessorientierten Arbeiten, wie der Serie von Kuben der US-amerikanischen Künstlerin Eva Hesse, zu vergleichen. Für Accession II (1968/1969) konstruierte die Künstlerin einen Kubus basierend auf einem Raster aus verzinkten Stahlplatten, die sie mit flexiblen Materialien, wie schmalen Vinylschläuchen, durchzog, um ein weiches – und irgendwie unheimliches – Innenleben zu schaffen (Abb. 2). Auch Robert Morris’ Box with the Sound of Its Own Making (1961), die buchstäblich die Aufnahmen ihrer Herstellung enthält, kann in diesem Sinne als historische Referenz gesehen werden (Abb. 3).
Als ein massives Objekt, das entlang eines natürlichen Flussverlaufs inmitten eines Landschaftsparks platziert ist, erinnert Kubus neben der Tauber darüber hinaus an die frühe Geschichte der Land Art mit ihren monumentalen, aber einfachen geometrischen Formen. Das Genre der Landschaft in der Kunst offenbart sich jedoch noch über ein ganz anderes Phänomen; wenn man genau hinschaut, erinnern die Oberflächen des Kubus an Landschaftsmalerei. Durch den Produktionsprozess, das Auffüllen der gebauten Verschalung mit dem flüssigen Beton, der sich dabei horizontal verteilt, ist eine Struktur entstanden, die eine abstrakte Landschaft zeichnet. Ungefähr auf halber Höhe verläuft eine horizontale Linie, welche die quadratische Fläche in ein Oben und Unten teilt. Für uns ist allein die schmale Spur sichtbar, die sich als Linie an der Außenfläche abzeichnet und als flächiges Bild lesbar wird. (Siehe Seite 6-7, 12-15) Diese kann als Horizontlinie, aber auch als das abstrakte Bild einer topografischen Karte interpretiert werden, sprich, als der Blick auf die Erde von oben – wobei die blau schimmernde Linie an den Verlauf der nebenan gelegenen Tauber erinnert. Im Gegensatz zum ersten, flüchtigen Eindruck von Kubus neben der Tauber als einem massiven und schlichten Objekt, das allein diesen Flecken Erde markiert, verweisen die neuen Perspektiven vielmehr darauf, dass auch der Kubus unterschiedliche Landschaften enthält, und damit auf den uns alle einschließenden größeren Kontext, dass sich die Erde selbst in einem permanenten Wandel befindet.
Die Bestrebung, den vermeintlichen Gegensatz von Beständigkeit und Vergänglichkeit in ihrer Arbeit zu manifestieren, durchzieht Mohrs künstlerische Praxis. Dieses Verhältnis erfährt seine dialektische Aufhebung in Form der Kohle; das geköhlerte Objekt wird der ihm eingeschriebenen, fortschreitenden Zeitlichkeit entzogen und in den Zustand einer Dauerhaftigkeit versetzt, wobei die Kohle zwar dauerhaft haltbar, aber gleichzeitig höchst fragil ist. In der Reihe WECHSELRAUM scheint Mohr dies jedoch umzukehren, so zeichnet sich das Projekt durch eine radikale Abwendung von Beständigkeit und eine Hinwendung zum Ephemeren aus. Mit WECHSELRAUM (seit 2015) hat Mohr ein performatives Format für eine kollaborative Ausstellungspraxis geschaffen, das, im doppelten Sinne des Wortes, Raum für Performances sowie ganz unterschiedlich geartete künstlerische Eingriffe bietet. Für das transdisziplinäre Projekt lädt sie jeweils eine Reihe Kollaborateur*innen, vor allem Künstler*innen, aber auch Tänzer*innen, Wissenschaftler*innen und Autor*innen ein, die wiederum je einen Zeitabschnitt zugeteilt bekommen, innerhalb dessen sie in – und vor allem mit – dem Wechselraum arbeiten. Das bezieht sich insbesondere auch auf alles, was im WECHSELRAUM bisher geschehen ist, und damit auf alle Arbeiten, die bis zu diesem Zeitpunkt entstanden sind. Diese werden zum Ausgangspunkt für die nächsten Teilnehmer*innen. Der Raum befindet sich somit in einem Prozess des permanenten Wandels. Den Ausgangspunkt bildet jedoch stets eine von Mohrs fragilen, geköhlerten Installationen, die auf unterschiedliche Weise zum Material für andere Arbeiten wird.
Als Teil ihrer einjährigen art residency führte Mohr im Herbst 2018 auch einen WECHSELRAUM in Rothenburg durch (23. – 24. November). Der 24-stündige Wechselraum begann gleich mit der partiellen „Zerstörung“ eines ihrer schwebenden Gebilde aus geköhlerten Ästen, die sie aus der Efeuranke des Baumes aus Kubus neben der Tauber geformt hatte. Als Material und Impulsgeber für den ununterbrochenen eintägigen Transformationsprozess hatte sie die Ranke des geköhlerten Efeus zentral im offenen Raum des ehemaligen Schwimmbads (und jetzigen Ateliers) installiert. (Siehe Seite 50) Während des ersten zweistündigen Zeitfensters forderte Florian Dombois die Teilnehmer*innen auf, die Holzkohle zu zermahlen, um sie für seinen Beitrag Volcanoes on the Road in Schwarzpulver zu verwandeln. Die knisternden Funken des Feuers, das langsam die gestreute Bahn entlangkroch und eine tiefschwarze Spur hinterließ, markierten den Anfang des Transformationsprozesses des WECHSELRAUMS in Wildbad, der in der folgenden Reihenfolge an die Teilnehmer*innen übergeben wurde: Jasmin Schaitl – Max Sudhues – Hannah del Mestre & Lukas Kleinert – Justus Weiß – Katja Pudor & Nicole Wendel – Judith Weber – Ilona Kalnoky – Georg Winter – Matthias Beckmann – Katja Pudor & Nicole Wendel – Alice Goudsmit. Zunächst erscheint das prozessorientierte Projekt als ein komplett ephemeres Ereignis, da es zeitlich und räumlich auf einen Ort und eine bestimmte Anzahl von Tagen – oder sogar nur auf wenige Stunden – begrenzt ist. Doch ähnlich wie der eine Funke, der das Feuerwerk entzündet hat, ist WECHSELRAUM nur der Anfang eines langfristigen Prozesses, der in den Arbeiten der vielen beteiligten Künstler*innen weiterschwelt. Die vermeintliche Zerstörung ist also nichts Endgültiges, sondern nimmt immer neue Formen an und ist innerhalb von Mohrs Werk als Methode zur Erforschung von Möglichkeiten zu verstehen. Zerstörung wird zur Transformation und ist lediglich der Beginn eines kontinuierlichen Prozesses – wie im Falle des Kubus an der Tauber, der von nun an zu dieser spezifischen Landschaft gehört.
(1) Merleau-Ponty, Maurice, Phenomenology of Perception, London/New York: Routledge, 2005, S. 237.
(Fig. 1): Zuordnung des Kubus zum Element Erde in Johannes Keplers Mysterium Cosmographicum Libri V, Tübingen, 1596, S. 53. (Abgebildet in: Johannes Kepler, Welt-Harmonik, München & Berlin: Verlag R. Oldenbourg, 1939, S. 74.)
(Fig. 2): Eva Hesse, Accession II, 1969, galvanisierter Stahl und Plastikschläuche, 78 x 78 x 78 cm (Detroit Institute of Arts). (Abgebildet in: Ursula Panhans-Bühler, LERNE ZAPLN TOD. EVA HESSE, WEIBLICHER TRICKSTER, Parkett 36, 1993, S. 13.)
(Fig. 3): Robert Morris, Box with the Sound of Its Own Making, 1961. Box aus Walnussholz, Lautsprecher und Aufnahme vom Bau der Box (3.5 h), 24,8 x 24,8 x 24,8 cm (Seattle Art Museum). (Abgebildet in: Robert Morris, The Mind/Body Problem, Ausstellungskatalog, New York: The Solomon R. Guggenheim Museum, 1994, S.104-105.)
Friederike Schäfer, 2019
