Von Zeit und Material. Ein Spaziergang durch schimmernde Kohlelandschaften.

Schwarze Berge. Ein Blick hinab auf dunkle Steine. Tiefbraune Wälder vor uns. Graue Hölzer schimmern violett. Dunkle Äste wirbeln durch den Raum, in Stücke zerlegt und verweilen. Die Zeit? Scheinbar still. Schwarze Kirschkerne liegen verteilt auf dem Boden. In Ulrike Mohrs Wäldern gibt es viele Arten: Flieder und Haselnuss, Schlingpflanzen und Ahorn und eine Erdnuss mit Schale. Jedes Detail, jede Pore und Maserung ist zu erkennen, unverändert in ihrer Form und farblich doch wie von einer anderen Welt. Selbst das Moos sitzt auf der Rinde – pechschwarz. Die weichen Nadeln der Nordmanntanne strecken sich in alle Richtungen aber sind ganz dunkel. Dabei haben Mohrs Pflanzen und Hölzer, Früchte und Äste nie etwas Beunruhigendes. Im Gegenteil. Ihre Objekte und Installationen aus Holzkohle wirken sanft, ruhig und scheinen dabei vorzeitlich. Oder gar von außerhalb der Zeit? Das Farbspektrum ihrer schwarzen Landschaften ist auf den zweiten Blick mannigfaltig. Jedes Objekt reflektiert das Licht anders, und kein Schwarz ist dem anderen gleich. In der Reduktion öffnet sich eine Fülle von Varianten, und so scheint eine Kohle ganz blau neben einer zweiten, die unvermutet grünlich glänzt.

Kohle geht weit in der Erdgeschichte zurück. Barbara Freese erzählt in ihrer Kulturgeschichte der Kohle von den einst dicht-grünen Sumpfwäldern aus bizarren Bäumen und gigantischen Farnen, die noch vor Säugetieren, Dinosauriern und noch bevor sich die Kontinente trennten die Erdoberfläche bedeckten. (1) Aus ihnen gingen Braun- und Steinkohle hervor: ein Energiespeicher aus vergangenen Lebensformen, die einst den Planeten dominierten. In gepresster, konzentrierter Form setzen wir diese alte Energie wieder frei. (2) Kohle hat das Gesicht der Erde seit dem 19. Jahrhundert wesentlich verändert – wörtlich und sinnbildlich. Wir haben Tunnel gegraben, um zu den unterirdischen, komprimierten Überresten jener Farne und Bäume zu gelangen. Die Gänge und Schächte mit Abzweigungen und Querverbindungen höhlen die Erde aus und bestehen nicht nur aus einer nunmehr subterran versteinerten Flora, sondern verästelten sich abermals zu einem „unterirdischen Wald.“ (3) Kohle hat Generationen von Kumpeln gezeichnet mit ihren von Staub verschmierten Gesichtern und Grubenlampen, der Gefahr von Grubengas und Schlagwetter. (4) Stolz ragten die Fördertürme in den Himmel als Eingänge zu einer anderen, für die meisten unsichtbaren Welt. (5) Im Tagebau hingegen wurden ganze Landschaften für die Kohle versetzt oder zerstört. Das nordamerikanische Mittelgebirge der Appalachen hat viele Bergspitzen an den Tagebau verloren. Der Dokumentarfilmer Bill Haneys berichtet in „The Last Mountain“ vom Kampf der Gemeinde Coal River, die nicht noch den letzten Gipfel verlieren will. (6) Durch den hohen Brennwert der Kohle wurde die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts überhaupt erst möglich, denn nur dank ihr konnten Eisenbahn und Dampfer Distanzen überwinden und Geschwindigkeiten erreichen, die die Welt veränderten und beschleunigten. (7) Das Bild der Kohle steht dem ihres Halbruders Öl jedoch oft diametral gegenüber. Bei ihr sprechen wir selten vom schwarzen Gold. Verbinden wir Öl mit Reichtum, haftet der Kohle oft eher eine Idee von Arbeit oder gar Armut an. Auf Öl stoßen bedeutet, vom Glück auserwählt zu sein, Kohle bedeutet Maloche. (8) Wäre die Kohle ein knappes Gut von Anbeginn gewesen, sie läge in den Vitrinen der Museen, neben ihren engsten Verwandten, den Diamanten. (9)

Kohle als Material in der Kunst können wir zunächst mit Monika Wagner als einen Naturstoff verstehen, dem als Fundstück „eine andere Beweiskraft [zukommt] als dem gemalten Bild.“ (10) Sie ist in diesem Sinn also mehr als die Farbe aus der Tube oder das gegossene Metall für die Bildhauerei, denn die Kohle gibt es ja schon. Naturstoffe können im künstlerischen Kontext sowohl als Ausdruck der Naturgeschichte an sich benutzt werden – sind als objets trouvés jedoch auch „Zeuge singulärer Ereignisse […].“ (11) Sie werden aber insbesondere dann mit einer zusätzlich bezeugenden oder authentifizierenden Kraft aufgeladen, wenn sie aus einer Zeit zu stammen scheinen, lange bevor das Kunstwerk selbst geschaffen wurde, und genau dies vermutet man bei Mohrs Kohlearbeiten. (12) Die feinen Äste, die sich als schwarze Linie im weißen Raum durch die Ausstellungshallen ziehen oder sich als dunkle Zirkel im Raum ausbreiten, wirken qua Material wie aus einer vergangenen Welt. Nie haben wir Sträucher und Büsche, Kerne und Stöcker so dunkel gesehen. Da sie aber gerade nicht vorzeitig sind, sondern erst von Mohr selbst verköhlert wurden, nehmen sie in der von Wagner beschriebenen Authentifizierung des Materials eine höchst spannende Sonderrolle ein. Nicht nur, dass sie überraschend rezent entstanden sind, Mohr verschiebt die bezeugende Kraft gar in die Zukunft: Das Material Holzkohle behält auf fast unbegrenzte Zeit seine Form. Als konservierte Relikte eines Moments, eines Sommers, in dem der Kirschbaum genau diesen Ast hervorbringt oder jenen Zweig treibt, stehen Mohrs Objekte für eine „unbefristete Beständigkeit“, von der die kulturelle Produktion oft geträumt hat, wie Aleida Assmann in ihren „Erinnerungsräumen“ beschreibt. (13) Wenn Mohrs Arbeiten damit eine besondere Zeitlichkeit innewohnt, müssen wir zunächst klären, wie wir Zeit verstehen. Insbesondere dann, wenn wir Zeit als „merkmalsvermittelt“ begreifen wollen, erfahrbar durch „geschwindigkeitsbezogene räumliche Bewegung und Distanzüberwindung.“ (14) Die Bewegung des Zeigers einer Uhr wäre ein Beispiel. Wir verstehen die Bewegung des Zeigers als verstreichen von Zeit. Sprichwörtlich verknüpfen wir Zeit oft mit räumlicher Veränderung, wenn die Zeit stillzustehen scheint oder uns gar davonrennt. Zeit selbst kann demnach unter anderem über Merkmale verstanden werden, die sich als räumliche Veränderung manifestieren; umso schneller diese passieren, desto schneller scheint Zeit zu vergehen.
Mohrs Arrangement von Material knüpft daran an. In Anthrakothek von 2013 schweben 86 Holzkohleäste inmitten eines Ausstellungsraums in Berlin. Auf Augenhöhe der Betrachter befinden sich geköhlerte Einzelteile einer Schre-bergartenkolonie. Ähnlich wie im Jahr zuvor in der Nash Gallery in Minneapolis wirkt die Präsentation der Objekte jedoch wie arretiert in der Bewegung oder eingefroren im Flug. In Berlin scheinen alle Hölzer von einem Mittelpunkt im Raum auszugehen und breiten sich konzentrisch aus. Wie ein kleiner Urknall, aus dem sie sich verteilten, um gleich auch schon wieder angehalten zu werden. In Minneapolis scheinen die Hölzer auf dem Weg in einer Richtung, und man meint, sie wurden abrupt im Fluge angehalten. Ein Ausblick zu einem der Paradoxa des Vorsokratikers Zenon von Elea scheint hier lohnend. Hatte Zenon doch im 5. Jahrhundert v. Chr. für sich festgestellt, dass wenn die Zeit einerseits ein unendliches Kontinuum sei und die Bewegung im Raum in unendliche viele Teilstrecken andererseits teilbar wäre, jedwedes Sein unbewegt sein muss – die Bewegung sei Täuschung. (15) Zenon verdeutlichte sein Argument mit der Flugbahn eines Pfeils, denn „der fliegende Pfeil ruht.“ (16) Alles ruht. „wenn es im gleichen Raume <mit sich selber> ist, und das Bewegte stets in dem „Jetzt‘ <d.h. in einem einzelnen Moment> sich befindet <alles aber im gleichen Raume in dem ,Jetzt‘ sich befindet> – dann sei der fliegende Pfeil unbewegt.“ (17)

Ulrike Mohrs Kohleäste in Berlin und Minneapolis sind als Material durch das Köhlern in einen Zustand der Unendlichkeit transformiert worden. Sie sind damit in ihrer Form als seiende Dinge unveränderbar. So scheint es doch, als ob das Material kurz vor Abschluss seiner Transformation aus dem vergänglichen in den unvergänglichen Zustand noch in Bewegung war und nun, da sie sich unendlich hinziehen müsste, im Fluge stehen bliebe. Die einzelnen Äste legen auf unendliche Zeit unendlich viele Teilstrecken einer unendlichen Gesamtstrecke hinter sich, über die Dauer ihrer nunmehr unendlichen Existenz. Und genau deswegen erstarren sie im Jetzt vor unseren Augen in der Galerie. Die Zeit scheint stillzustehen, weil die Bewegung im Raum infinit gedehnt wurde.

Ulrike Mohrs Installationen gelingt es, den häufig ortsspezifischen Recherchen eine Form zu geben, die dem Medium Kohle dabei eine materialästhetische Eigenständigkeit lässt. Beispielhaft steht dafür ihre Ausstellung With your Hands Black im Heidelberger Kunstverein. (18) Im Studio des Kunstvereins inszeniert Mohr einerseits auf dem gerasterten Terrazzoboden eine Landschaft von geköhlerten Objekten, die einer archäologischen Grabungsstätte ähnlich scheint: Gebogene Aste, heller Sand, Fassringe, Ton und Weinreben liegen in und über die Felder des Bodens verteilt. Abstrahierend zeigt Mohr hier ein Ensemble aus Produkten des Tresters, den Überresten der Weintraubenpresse. Besonders fällt die hinterste Ecke des Ausstellungsraums auf. Kleinteilige Holzkohle fügt sich wie dunkler, grober Sand in einem rechteckigen Feld in die Nische des Raums. Auf diesem schwarzen Feld liegt eine kleinere Kupferplatte. Von oben unmerklich beleuchtet lösen sich Reflexionen von ihr, die auf den grauen Wänden einen Lichtkegel bilden.

Formal drängen sich Vergleiche zur Objektkunst der 1960er Jahre auf, Mohrs Material ist aber alles andere als nicht-referentiell, wie Teile der Minimal-Art es verlangten. (19) Ihre Präsentation ist jedoch ebenso wenig überfrachtet mit der Ästhetik von Recherche basierten Arbeiten, deren Zugänglichkeit häufig nur außerhalb des phänomenologisch Erfahrbaren möglich scheint. Mohrs Präsentation in Heidelberg beruht auf ihrer Recherche zum „Frankfurter Schwarz“, jener Farbe, dessen Pigment aus verköhlertem Trester gewonnen wird. Wir können Kohle hier historisch und sozial verstehen: als Folgeprodukt der Weinernte, als Mittel zur Farbproduktion und dem darauf aufbauenden Druckverfahren mit Kupferplatten, das die Hände schwarz gefärbt hinterlässt. Das formal reduzierte rechteckige Feld auf dem Boden, eine Kupferplatte darauf und der Lichtkegel lassen aber ebenso zu, das Knistern der Kohle zu hören, wie sie in der Ecke unter der Kupferplatte glüht. Der Lichtkegel nach oben schafft das Bild einer abstrahierten Flamme, die von der Kohle nach oben züngelt.

Wie in vielen ihrer Arbeiten behält Ulrike Mohr auch hier das Gespür für die Poesie des Materials, ohne dass sie Gefahr liefe, die intellektuellen Zugänge durch sinnlich-ästhetische Erfahrungen zu verdecken.

(1) Freese, Barbara. Coal – A Human History. Penguin. London. 2003. S. 3ff.
(2) Ebd. S. 4.
(3) Sieferle, Rolf Peter. The Subterranean Forest. Energy Systems and the Industrial Revolution. The White Horse Press. Cambridge. 2010.
(4) Farrenkopf, Michael. Mythos Kohle. Der Ruhrbergbau in historischen Fotografien aus dem Bergbau-Archiv Bochum. Aschendorf. Münster. 2009. S. 47.
(5) Ebd. S. 36f.
(6) Haney, Bill (Regie). The Last Mountain. Dada Films und Uncommon Productions. USA. 2011.
(7) Freese, Barbara. Coal – A Human History. Penguin. London. 2003. S. 2.
(8) Ebd.
(9) Ebd. S. 234.
(10) Wagner, Monika. Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. C.H. Beck. München. 2001. S. 110.
(11)
Wagner, S. 109
(12) Wagner, S. 110.
(13) Assmann, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. C.H. Beck. München. 2009. S. 348.
(14)
Nüning, Ansgar (Hrsgb.), Metzlers Lexion der Kultur- und Literaturtheorie, Metzler, Stuttgart, 2004, S. 719.
(15) Kunzmann, Peter et al. dtv-Atlas Philopsophie. dtv. München. 1991. S. 32 f.
(16)
Nach Artistoteles, Physik VI 9.239 b 30ff, zitiert in Capelle, Wilhelm. Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Kröner. Stuttgart. [1935] 1968. S. 178.
(17) Nach Artistoteles, Physik VI 9.239 b 5ff, zitiert in Capelle, Wilhelm. Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Kröner. Stuttgart. [1935] 1968. S. 178f.
(18)With your Hands Black. Teil der Serie Das Serendipitätsprinzip. Heidelberger Kunstverein. 22.11.2013 bis 2.2.2014.
(19)
Moszynska, Ann. Abstract Art. Thames & Hudson. London. 2004. S. 204.
(20)
Wagner, S. 245
(21)
 Ebd.

Nico Anklam, 2014

Privacy Preference Center